Blick in die Röhre
Fast fünfzig Jahre ist es her, seit der Mensch den Mond betreten hat. Aber bei den SBB gibt es noch immer Toiletten, deren Abfluss direkt auf das Gleis mündet.

Unterwegs auf der Bahnstrecke Basel–Baden. Es geht über den Bözberg. Ich muss mal. Am Ende des Waggons hat es eine Toilette. Ich öffne die Tür und betrete die Kabine. Und gucke unvermittelt in die Röhre. Wieder einmal.
Wir schreiben das Jahr 2018. Das menschliche Genom ist entziffert. Das iPhone 8 ermöglicht uns, von überall her mit der ganzen Welt zu kommunizieren. Und es ist fast fünfzig Jahre her, seit der Mensch den Mond betreten hat. Aber bei den SBB gibt es noch immer Toiletten, deren Abfluss direkt auf das Gleis mündet.
Als Bub hat mich der Blick durch den offenen Abfluss immer fasziniert. Es war buchstäblich ein Röhrenblick. Stand der Zug still, an einem Bahnhof, konnte ich unten einzelne Schottersteine sehen. Fuhr der Zug dann an, fingen die Steine an, sich zu bewegen, immer schneller. Ich versuchte, die Steine noch möglichst lange zu erkennen. Bis sie so schnell vorbeirasten, dass das nicht mehr zu schaffen war. Heute will ich lieber nicht wissen, was es da unten so alles zu sehen gibt.
Eigentlich kann es mir ja «scheissegal» sein, dass das Abflussrohr offen ist. Zumindest so lange, als der Fahrtwind in demselben nicht für eine unerwartete Schubumkehr sorgt. Und so nach oben spediert wird, was eigentlich nach unten gehen sollte. Aber selbst wenn die Gravitation wirkt, wie sie sollte: Man hat ja doch ein paar Spiegelneuronen im Gehirn. Und die signalisieren einem, Empathie zu empfinden. Empathie mit den Anwohnern entlang der Eisenbahnlinien, die einen Fäkalienregen über sich ergehen lassen müssen. Seit Jahrzehnten.
Seit Ende 2016 seien nur noch rund 180 Wagen ohne geschlossene WCs im «gelegentlichen Einsatz», behaupten die SBB im Internet. Das sei «etwa für den Zusatzverkehr an wenigen Tagen im Jahr» der Fall. Gelegentlicher Einsatz? An wenigen Tagen? Die Bözberglinie gehört offenbar nicht zum SBB-Netz!
Ich weiche also zurück. Verlasse die windige Kabine und verschiebe das Geschäft auf später. Ich hoffe, dass ich schon bald an einem anderen Ort bin. An einem Ort, wo es ein besseres Örtchen gibt. An einem Ort, wo die Zivilisation schon Einzug gehalten hat. (Basler Zeitung)
Erstellt: 17.04.2018, 11:17 Uhr
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